Allgemeiner Informationstext zum Thema
Hochsensibilität - Was ist das?
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Jeder Mensch nimmt Informationen aus seiner Umwelt auf und verarbeitet sie. Bei fast allen Menschen
wird ein Großteil der Informationen jedoch aus der Wahrnehmung herausgefiltert.
Wir merken dies zum Beispiel, wenn wir uns an ein Geräusch gewöhnt haben: Wer an einer Straße wohnt, deren
Lärm hörbar ist, aber nicht besonders belästigt, wird diese Geräusche nach einer gewissen Zeit nicht mehr
wahrnehmen, obgleich sie objektiv nach wie vor vorhanden und hörbar sind. Kommen Gäste zu Besuch, die die
AnwohnerInnen auf den Verkehrslärm aufmerksam machen, nehmen sie ihn plötzlich - wenngleich ohne Überraschung - für
einige Zeit wieder wahr, bis sie schnell in die alte Gewohnheit verfallen und den Verkehrslärm aus ihrer Wahrnehmung
ausblenden. Der "Gesang" der Straße wird aus der Wahrnehmung herausgefiltert.
Dieser
Filter ist bei hochsensiblen Menschen aufgrund neurologischer Besonderheiten weniger stark ausgeprägt
als bei nichthochsensiblen Menschen. Hochsensible
nehmen viel mehr Informationen auf, sowohl von ihrer Umwelt als auch von sich selbst. Sie nehmen feine
Einzelheiten in einem größeren Spektrum wahr.
Was genau Hochsensible allerdings im Einzelfall intensiver wahrnehmen, ist unterschiedlich, auch weil sich die
Wahrnehmung auf das Innere und das Äußere erstreckt. Manche HSP (= Highly Sensitive Person) nehmen z. B. Gerüche,
optische und akustische Eindrücke intensiver oder facettenreicher wahr, andere bemerken beispielsweise feine Nuancen
in zwischenmenschlichen Beziehungen, können manchmal gar fühlen, ob eine Person lügt.
Was hat dies für Konsequenzen?
Hochsensibilität hat Vorteile und Nachteile. Da Letztere in der modernen Gesellschaft Hochsensiblen das Leben sehr
erschweren können, werden sie in Diskussionen und in der Literatur intensiv behandelt. Verstehen kann man ihre
Ursachen nur, wenn man sich die Folgen der intensiveren Wahrnehmung vergegenwärtigt.
Wahrnehmung ist anstrengend. Wer einige Stunden in der Oper saß, wird zu Hause nicht gleich eine CD in die
Stereoanlage einlegen und Musik hören. Wer 90 Minuten konzentriert einem Vortrag gelauscht hat, braucht eine Pause. So
schön die Disko auch sein mag - irgendwann wird einem die Musik zu viel, und man möchte nach Hause.
Weil Wahrnehmung anstrengend ist, haben Menschen nur begrenzte Aufnahmekapazitäten. Aus diesem Grund gibt es
Pausen zwischen den Schulstunden, werden Theaterstücke nicht gerne ohne Unterbrechung gespielt und bei Spielfilmen mit
Überlänge Pausen eingelegt. So schön eine Erfahrung auch ist - irgendwann ist es genug, wir brauchen eine Auszeit.
Jeder Mensch braucht nach Wahrnehmung Pausen zur Verarbeitung, auch zur Erholung der Nerven. Man kann die
Aufnahme von Information nur eine bestimmte Zeit lang ertragen, dann wird es einem z uviel. Man könnte auch sagen: Nur
ein gewisses Quantum an Information kann am Stück aufgenommen werden, dann sind die inneren Speicher voll und die
Akkus leer.
Wenn Hochsensible nun permanent wesentlich mehr Informationen aufnehmen als normal sensible Menschen, so liegt es
in der Natur der Sache, dass bei ihnen die Speicher schneller voll und die Akkus schneller leer sind. Die hohe Anzahl
an Informationen, die sie aufnehmen, will verarbeitet ("verdaut") werden. Ihre Nerven brauchen nach Zeiten
der intensiven Stimulierung früher eine Phase der Regeneration.
Aufnahmekapazitäten bestimmen allerdings nicht nur die Dauer der erträglichen Wahrnehmung von Informationen,
auch begrenzen sie Umfang und Intensität an Information, die zur selben Zeit, sprich in einem Moment, aufgenommen
werden kann.
Werden uns zu viele Bilder in zu hektischer Abfolge gezeigt, wird uns unwohl, wir wünschen uns ein langsameres
Tempo. Viele Menschen fühlen sich belastet, wenn zu viele Personen gleichzeitig auf sie einreden.
Auch hier stoßen Hochsensible früher an ihre Grenzen: Da die Intensität ihrer Informationsaufnahme höher ist
als bei anderen Menschen, geraten sie schneller an ihre "Schmerzgrenze". Der Ausdruck passt in der Tat:
Überstimulation kann Schmerzen verursachen. Bei HSP sind schneller Leitungen überlastet - der Körper wehrt sich.
Infolge dieser Begrenzungen sind Hochsensible, von außen betrachtet, scheinbar weniger belastbar - laute Musik,
der Andere ohne Probleme zuhören können, führt bei ihnen zu Unwohlsein, gar zu Schmerzen. Gruppen von Menschen, z.
B. große Partys mit breiter Geräuschkulisse, eng aneinanderstehenden Menschen und vielen Gerüchen in der Luft, die
für normale Menschen keine besondere Herausforderung darstellen, bedeuten für Hochsensible häufig eine
unerträgliche Überlastung an Informationszufluss. Wenn sie sich aus solchen Situationen zurückziehen, wird das
häufig als Ungeselligkeit, Snobismus, elitäres Empfinden oder Unhöflichkeit interpretiert. In Wirklichkeit ist es
Flucht - Flucht vor der Überreizung, die das Nervensystem der HSP an die Grenze der Überlastung bringt.
Als der Verfasser z. B. während seiner Studienzeit Freunde besuchte, die im Hintergrund Musik laufen ließen, so
konnten diese sich dabei stundenlang unterhalten. Der Autor konnte es nicht - je nach Lautstärke musste er sich
früher als die anderen verabschieden. Und auch schon während des Beisammenseins hatte er für die Geselligkeit den
Preis gezahlt, dass er sich nicht vollständig wohlfühlte - er war stets durch Überstimulation nervlich angespannt
gewesen.
Die nicht-hochsensiblen Freunde hatten dafür wenig Verständnis. Sie konnten nicht nachempfinden, was ihn an der
Musik störte.
So individuell die Wahrnehmungsunterschiede bei HSP sind, so unterschiedlich sind auch die Ereignisse, die
Überstimulierung hervorrufen. Manche HSP kann laute Musik lange Zeit problemlos hören, wird aber durch eine leichte,
für andere Menschen kaum fühlbare Verstimmung der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners, der/des Vorgesetzten in
eine tiefe Krise gestürzt.
Verhalten sich Hochsensible konsequent, werden sie also Situationen meiden, in denen sie mit Reizen, die zu
Überstimulation führen, konfrontiert werden. Dazu zählen insbesondere Orte mit lauter Musik und vielen Menschen; das
kann aber, wie gesagt, individuell ganz unterschiedlich sein. Auch werden Hochsensible eine Tendenz aufweisen, sich
zurückzuziehen, teilweise ein EigenbrötlerInnendasein führen, um Zeit und Muße zu haben, die vielen Informationen
zu verarbeiten.
Ist das nicht schrecklich?
HSP, die um ihre Veranlagung noch nicht wissen, glauben sehr häufig, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung, sie
seien krank und behandlungsbedürftig. Der äußere Eindruck scheint dies auch zu bestätigen: Alle anderen können
Dinge tun, die für HSP unerträglich sind. Im Glauben, die eigene Andersartigkeit sei etwas Pathologisches, versuchen
sie, dagegen anzukämpfen, was in neue Teufelskreise bis hin zu Selbsthass führen kann.
Wissen HSP jedoch um ihre Besonderheit, können sie ihre Sensibilität häufig genießen, ja sogar nutzen. Wenn
viel mehr Informationen verarbeitet werden müssen, führt dies automatisch zu mehr Verarbeitung. Das klingt banal, hat
aber zur Folge, dass viele Hochsensible ständig mit Informationsverarbeitung, sprich Analyse ihrer Eindrücke,
beschäftigt sind. Ihre entsprechenden Fähigkeiten sind hochtrainiert, und so vielschichtig und facettenreich ihre
Wahrnehmung ist, so vielschichtig und facettenreich sind ihre
Interpretationen der Welt. HSP hüten sich vor verfälschend einfachen Denkmustern und kommen in ihrem
Verständnis der Welt der überaus komplizierten und komplexen Realität weitaus näher als Nicht-HSP.
Breiten Raum in ihrem Bewusstsein nimmt die
Reflexion ein, sowohl über die äußere Welt als auch über sich selbst. Sogar vor dem Denken als
Phänomen macht ihr Nachdenken nicht halt. Teilweise erschließen innere Dialoge auf verschiedenen und miteinander
verknüpften Meta-Ebenen einen hochdifferenzierten Zugang zur Welt, der Stellung des Ich darin und zur Metaphysik.
Dies klingt vielleicht überheblich und abgehoben. Doch es stürzt in elementare Krisen, wenn z. B. aufgrund der
erbarmungslosen Selbstreflexion die eigene Existenz plötzlich in Rechtfertigungsnöte gerät. Die Infragestellung von
als selbstverständlich erachteten Fundamenten des (eigenen) Daseins kann an Abgründe führen;
Depressionserscheinungen sind für manche HSP ein bekannter Gefährte.
Doch hat man die Talsohle durchschritten und für sich selbst ein philosophisches System entwickelt, das der
uneingeschränkten Reflexion standhält, so ist diese geistige Grundlage des Lebens stabiler als vieles andere, was
diese Welt an Ideologien und Dogmen anbietet.
Diese Komplexität des Innenlebens wird von vielen HSP als Reichtum bezeichnet. Ihr intensives Erleben selbst von
Kleinigkeiten des Alltags gibt dem Dasein eine Qualität, die dazu führt, dass man trotz der Nachteile im Umgang mit
den Mitmenschen auf die Veranlagung nicht mehr verzichten möchte. Auch hier gibt es selbstverständlich abweichende
Aussagen, doch scheint die Mehrheit der HSP das Gesagte zumindest mit Vorbehalten unterstützen zu können.
Im Umgang mit der Welt kann dies allerdings zu neuem Schmerz führen. Die intensive Reflexion mit hoher
Differenzierung führt zu
Vorsicht und Zurückhaltung im Urteil: Die These kann in der Regel genauso verfochten werden wie die
Antithese.
Zu Traurigkeit und Verzweiflung kann führen, dass sich diese Vorsicht bei den Mitmenschen nicht findet.
Abstoßend wirken emotional aufgeladene Vehemenz und Überzeugungen, welche aus der Sicht der Hochsensiblen nicht
gründlich geprüft und hinterfragt wurden. Alles ist doch so kompliziert, und die Mitmenschen scheinen dies nicht zu
verstehen, sondern eindimensional und oberflächlich zu denken, nicht hinter die Kulissen zu blicken, kein Verständnis
zu haben dafür, dass zurückhaltende Differenzierung dem oberflächlichen Draufgängertum überlegen ist.
Eine gewisse
Vereinsamung des hochsensiblen Geistes kann die Folge sein. Sie verstärkt, was durch den
Fluchtinstinkt vor der Überstimulation ohnehin Tendenz des Strebens ist.
Hochsensible - geschätzt 15-20% der Gesamtbevölkerung - trösten sich in ihrer Literatur und ihren
Internet-Foren mit
lange vergangenen Zeiten, in denen ihresgleichen einflussreiche und geschätzte Positionen in der
Gesellschaft - z. B. Berater an den Höfen der Könige, Priester - innegehabt hätten. Die moderne Gesellschaft, so
beklagen sie, sei jedoch der Hochsensibilität feindlich gegenüber eingestellt. In der modernen Zeit zählten Kraft,
Stärke und Schnelligkeit. Nachdenklichkeit, Reflexion und langsameres Handeln seien heutzutage ein Zeichen von
Schwäche. Dementsprechend würden Hochsensible allmählich aus ihren klassischen Berufen verdrängt und fänden
Nischen nur in den letzten Bereichen, die man spontan mit Hochsensibilität assoziiert, beispielsweise Psychotherapie.
In der Tat täuscht hier die Intuition nicht:
Intimität schätzen viele Hochsensible sehr; sie werden häufig als gute ZuhörerInnen geschätzt, da
sie ein feines Gespür für Stimmungen und subtile Botschaften haben und das Vermögen ausstrahlen, mit Verletzlichkeit
behutsam umzugehen. Für Hochsensible ist eine Intimität, die Sanftmütigkeit und Rücksichtnahme mit sich bringt, die
Art des Umgangs, die sie sich für die ganze Gesellschaft erhoffen. Gerade mit Personen, die Schicksalsschläge hinter
sich haben, die Spuren hinterließen, "stimmt die Chemie", da solche Menschen nach ihren Erlebnissen im
Angesicht von Abgründen auch zu tieferer Reflexion und größerer Behutsamkeit neigen.
Betont wird, dass Hochsensible ebenso wie geringer Sensible jeweils wichtige Aufgaben in der Gesellschaft
erfüllten, dass mithin eine Gesellschaft, die die Hochsensiblen an den Rand dränge, irgendwann einen Preis dafür
werde zahlen müssen.
Dies erscheint insbesondere plausibel, wenn man sich die Fähigkeit mancher HSP vor Augen führt, scheinbar
in die Zukunft blicken zu können: Was wie Wahrsagerei aussieht, ist in Wirklichkeit das teilweise
unbewusste Erkennen hochkomplexer Kausalketten und übergeordneter Zusammenhänge, das Prognosen erlaubt, die bei
Nicht-HSP Staunen hervorrufen können. HSP erkennen die Konsequenzen des Handelns schon im Voraus und neigen
infolgedessen zu angemessener Vorsicht.
Hochsensibilität kann aufgrund der hohen nervlichen Aktivität ferner zu besonderen
Begabungen führen. Viele HSP sind außergewöhnlich kreativ; andere sind durch Schnelligkeit,
Geistesgegenwart und fast pedantische Genauigkeit in ihrem Beruf überaus leistungsfähig.
Wie überlebt man trotz der Probleme in dieser Gesellschaft?
Wie dargestellt, gibt es genug Gründe, an der modernen Zeit zu leiden. Verweigert man sich nicht der modernen
Lebensweise, lebt man oft in nervlicher Überstimulation, was zu Angstzuständen und Depression führen kann. Die
Rationalisierungen der Angst sind mannigfaltig, z. B. unbegründete Sorgen in Bezug auf die soziale Stellung oder
Hypochondrie. Verweigert man sich der modernen Lebensweise, drängt sich z. B. das Gefühl auf, etwas zu verpassen. Man
gerät in die Gefahr der sozialen Isolation und sieht sich im schlimmsten Fall der Verachtung seiner Mitmenschen
ausgesetzt, die die Rückzugsbestrebungen als Ausdruck von Überheblichkeit oder gar (krankhafter) Absonderlichkeit
werten.
Sehr ausführlich werden in der Literatur von und für Hochsensible angesichts der vielen Probleme Strategien und
Taktiken dargestellt, wie man seine besonderen Bedürfnisse mit der Realität der heutigen Zeit einigermaßen in
Einklang bringen kann. Grundsätzlich, soviel kann hier zusammenfassend gesagt werden, geht es darum, sich der eigenen
Besonderheit bewusst zu sein, und sie immer ein bisschen mitzubedenken, wenn man alltägliche Entscheidungen darüber
trifft, was man tut und wie man lebt.
Bin ich nun hochsensibel?
Man kann sich für Hochsensibilität "nichts kaufen". Der Terminus kann aber helfen, dass ein
Betroffener/eine Betroffene das Leben etwas mehr der Veranlagung entsprechend gestaltet. Infolgedessen sei schlicht
gesagt, dass wer mit "Hochsensibilität" etwas anfangen kann, wem der Begriff etwas sagt, im eigenen
Interesse weiterforschen sollte.