Abgrenzung zwischen HS und Psychopathologien

Ausflug in die Psychiatrie 
Zur Frage, ob Hochsensibilität (doch) ein psychopathologisches Phänomen ist 

Grundlegendes Postulat des IFHS ist die Charakterisierung des Phänomens Hochsensibilität als „neurologische Besonderheit“, die als solche Vor- und Nachteile mit sich bringe, auf jeden Fall aber keine Krankheit sei. Für die Erforschung dieser besonderen neurologischen Konstitution sei infolgedessen vornehmlich die Persönlichkeitspsychologie, nicht hingegen die Psychopathologie zuständig. Eine Konsultation psychopathologischer/psychiatrischer Literatur bestätigt den Kern dieser Sicht der Dinge, führt aber gleichzeitig zu verblüffenden Einsichten.

Zunächst fällt auf, wie hauptsächlich gesund man im Grunde ist. Zwar kennt so manche HSP ihre melancholischen Phasen, namentlich nach nervlicher Überbelastung; mit einer affektiven Psychose hat das allerdings nichts zu tun. Ebenso vergessen können wir Schizophrenien und wahnhafte Störungen: Wer Geräusche hört, die andere erst dann (dann aber sehr wohl!) hören, wenn man sie darauf hinweist, leidet nicht unter Halluzinationen, die auf ein Durcheinander im Neurotransmitterhaushalt hinweisen. Abhängigkeiten, grob-organische psychische Störungen – beim besten Willen: nein.

Interessanter wird es erst bei den psychoreaktiven Störungen, namentlich deshalb, weil hier zum Teil fließende Übergänge zu ‚normalen’ Psychopathologien des Alltagslebens festzustellen sind, die im Grunde jeder kennt. Hierzu gehören etwa Zwangsgedanken der Kategorie ‚Habe ich die Tür abgeschlossen?’(, die man übrigens anscheinend am besten durch Ablenkung los wird, nicht durch Unterdrückung oder gar Nachgeben, da sonst eine Bahnung eintritt: Das Nervensystem gewöhnt sich an die Zwangsgedanken/-handlungen).

Was hier festzustellen ist: ‚Ansätze’ von Störungen, die sich in den Lehrbüchern finden, sind der HSP durchaus bekannt. Freilich scheinen die, man ist versucht zu sagen: „Symptömchen“, weit von einer Schwelle zur echten (behandlungsbedürftigen) Störung entfernt zu sein. Es stellt sich hier, wenn überhaupt, meist nur die Frage, ob sich die erwähnten Ansätze aufgrund irgendeines ‚Verstärkungseffektes’, den die Hochsensibilität mit sich bringt, etwas intensiver darstellen als beim Durchschnittsbürger, oder ob man sie schlicht aufgrund stärker trainierter Introspektion eher problematisiert.

Eine Ausnahme gibt es vielleicht: Hinter der Codierung ICD F60.6 verbirgt sich die „Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung“, die nicht nur ihrer Symptome wegen sondern auch auf aufgrund eines Synonyms hellhörig werden lässt: Sensitive Persönlichkeit. Die Beschreibungen dieser Persönlichkeitsstörung erscheinen teilweise doch recht bekannt: „ausgeprägte Empfindsamkeit, Schüchternheit, Kontaktscheu, mangelnde Durchsetzungsfähigkeit und Insuffizienzgefühle“ (Vetter). Es ist die Rede von „äußerst empfindliche[n] Menschen, die stark zu beeindrucken sind und sich leicht verletzt fühlen und zurückziehen, um Konflikte zu vermeiden“ (Haring).

Besonders spannend für Kenner des Konstruktes Hochsensibilität: Teilweise wird in der Forschung vermutet, diese Persönlichkeitsstörung könne ihren Ursprung in einem genetisch bedingten „gehemmten Temperament“ (Butcher/Hooley/Mineka) haben, das zu der Störung führe, wenn Kinder mit entsprechender Konstitution seelischen Misshandlungen ihrer Eltern ausgesetzt seien. Aron, Aron und Davies meinen, wie Alex Bertrams auf der IFHS-Webseite schreibt, Hochsensibilität werde zum Problem, wenn ein betroffenes Kind eine „ungünstige[..] elterliche[..] Umwelt“ erlebe. Schließlich entdeckt die psychopathologische Literatur sogar Vorteile(!) der Ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung: Entsprechende Begabung vorausgesetzt, könne eine „gesteigerte[..] Ausdruckskraft [...] ein positiver Aspekt dieser Disposition“ (Haring) sein.

Hier zeigt sich freilich, dass die Störung ICD F60.6 nicht identisch sein kann mit dem Konstrukt Hochsensibilität. Sie ist allenfalls ihre Folge, und auch das nur im Zusammenspiel mit anderen Faktoren. Darüber hinaus war diese Darstellung insofern etwas einseitig, als dass es den AutorInnen (jedenfalls den meisten) gar nicht darum geht, eine besondere sensorische Empfindlichkeit aufzuzeigen. Die wesentlichen Probleme Betroffener sehen sie in sozialer Hinsicht: Rückzug und Vermeidungsverhalten aufgrund von Empfindlichkeit gegenüber Kritik, aus Angst vor tatsächlicher oder vermuteter sozialer Zurückweisung, der bzw. das zu Isolation führen kann.

Trotzdem: Es bleibt der Verdacht, dass es sich durchaus, jedenfalls für die eine oder andere HSP, lohnen kann, sich mit dieser Persönlichkeitsstörung zu beschäftigen, mag man sich auch in diesem Fall noch diesseits der ‚Krankheitsschwelle’ aufhalten. Wer zu den anscheinend vielen HSP gehört, die Probleme im Zusammenhang mit Intimbeziehungen haben, könnte Erhellendes bei Sachse finden: Er beschreibt ausführlich ein Gefühl der Minderwertigkeit, des fehlenden Wertes auf dem Partnerschaftsmarkt, das zusammen mit Angst vor Zurückweisung, die die obigen Annahmen bestätigen würde, zu einer sehr passiven Haltung führe. Bevor der bzw. die Betroffene ‚aktiv’ werde, brauche er oder sie deutliche, objektiv überdeutliche Signale des Interesses und der Zuneigung.

Fazit: Hochsensibilität ist wohl tatsächlich kein psychopathologisches Phänomen. Die Lektüre entsprechender Literatur mag allerdings – nicht nur HSP – helfen, mit den kleinen Pathologien des Alltags besser zurechtzukommen. Namentlich die Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD F60.6) dürfte interessant sein.

Nicht befragt wurde an dieser Stelle die Neuropathologie.

Quellen:

  • Butcher, James N., Hooley, Jill M., Mineka, Susan, Klinische Psychologie, 13. Auflage, München 2009 (S. 470-472)
  • Fiedler, Peter, Persönlichkeitsstörungen, 6. Auflage, Weinheim, Basel 2007 (S. 209-217)
  • Haring, Claus, Psychiatrie, 3. Auflage, Wiesbaden 2004 (speziell S. 155)
  • Sachse, Rainer Persönlichkeitsstörungen, Göttingen 2004 (S. 64-72)
  • Vetter, Brigitte, Psychiatrie, 7. Auflage, Stuttgart 2007 (S. 70f.)


Autor: Michael Jack
Erschienen in Intensity 2, Januar 2010: http://www.hochsensibel.org/dokumente/Intensity/Intensity02.pdf.