Über den Gebirgsketteneffekt

Analogon Turmerlebnis 
Was uns der Gebirgsketteneffekt über HSP verrät 

Die Suche nach einer sicheren empirischen Basis für die Behauptung, ein Konstrukt namens Hochsensibilität sei eine angemessene Beschreibung für eine besondere neurologische Konstitution eines Teils der Menschen, führt in cartesianischer Tradition auf ein Erlebnis zurück, das wir als Gebirgsketteneffekt bezeichnen: Nach Kontakt mit dem Terminus erleben Betroffene häufig ein Gefühl grundsätzlicher Erleichterung; ganze Gebirgsketten ‚fallen vom Herzen’. In dem Bemühen, zu verstehen, was dieses Empfinden über Hochsensibilität bzw. HSP aussagt, bietet sich eine Befragung der Religions- bzw. Pastoralpsychologie an, da Martin Luthers Turmerlebnis starke Parallelen zum Gebirgsketteneffekt aufzuweisen scheint.

Religion ist häufig metaphysisch begründete Normsetzung, wobei das Christentum davon ausgeht, Jesus habe die Gebote des Judentums radikalisiert. Die damit verbundene Unerfüllbarkeit führt zwangsläufig zur Sündhaftigkeit des Menschen, dem Gott aber aufgrund seiner Liebe verzeiht. Der Gläubige könne freilich, so die Lehre der Kirche zur Zeit Luthers, eigene Beiträge zu seiner „Rechtfertigung“ leisten; namentlich durch den Kauf von Ablassbriefen.

Martin Luther leidet zu Beginn seines Lebens angesichts der Unerfüllbarkeit der göttlichen Gebote; ihn treibt die Angst um vor Gottes Gerechtigkeit als Strafinstanz. Namentlich durch Studium des Römerbriefes, in dem Paulus die christliche Gnadenlehre darlegt, glaubt er zu verstehen, dass Gott bereits dann dem Menschen verzeihe, wenn dieser nur an ihn glaube. Diese sehr befreiende Erkenntnis kommt dem späteren Reformator, wie er selbst erzählt, plötzlich in seinem Arbeitszimmer im Südturm (Turmerlebnis) des Augustinerklosters in Wittenberg; er empfand, er sei „geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten“.

Ob und wann sich das Turmerlebnis so zugetragen hat, wie berichtet, ist unter Theologen umstritten. Hier interessiert aber auch nur, wie es psychologisch zu interpretieren wäre, wenn es stattgefunden hätte. Anscheinend gibt es nicht viele entsprechende Stellungnahmen. Zurückgehend auf den Psychoanalytiker Erik Erikson wird gesagt, Luther habe unter einem sehr dominanten Über-Ich (im Sinne Freuds) gelitten, das ihm einen „Sinn für Identität“ (Erikson) nur im Falle von Normerfüllung gewährt habe. Das Turmerlebnis habe ihm eine „eigene Identität“ offenbart „als jemand, der [allein schon] durch den Glauben [nicht nur gerechtfertigt sondern auch] akzeptiert“ ist (Cole).

Der Religionspsychologe Hjalmar Sundén versteht religiöse Erfahrungen als Folge der Übernahme einer Rolle im Interaktionssystem eines sakralen Textes. In dieser Lesart ist das Turmerlebnis, in dem der relativ abstrakt gehaltene Römerbrief von zentraler Bedeutung ist, weniger wichtig als eine sozusagen konkrete Bibelstellen überspannende Identifikation mit dem leidenden und erniedrigten Christus, eine Übernahme der Rolle Christi, die beim Exegeten Luther ein „überwältigendes Erlebnis eines Strukturwechsels im Erlebnis- und Wahrnehmungsfeld“ hervorruft, das ihn in die Lage versetzt, Gottes Gerechtigkeit zu erkennen.

Inwieweit hilft dies zum Verständnis des Gebirgsketteneffektes? Es wird von einigen HSP berichtet, sie hätten lange Zeit das Gefühl einer grundlegenden Andersartigkeit gehabt, das sich mit dem Empfinden ‚von einem anderen Stern zu sein’, treffend metaphorisch beschreiben ließe. Durch den Terminus „Hochsensibilität“ hätten die eigenen Maßstäbe für das Niveau an Reizen, das guttut, eine Legitimierung erfahren.

Im Lichte der vorgestellten Interpretationen von Luthers Turmerlebnis scheint es nicht weit hergeholt, zu vermuten, der Terminus „Hochsensibilität“, vielleicht sogar eher noch der Begriff der „Hochsensiblen Person“, sei das Angebot einer spezifischen Rolle im menschlichen Interaktionssystem. Vor dem Gebirgsketteneffekt versucht die HSP, eine ihr fremde, nicht auf sie zugeschnittene Rolle zu spielen, und scheitert dabei ständig. Die ‚neue Identität’ als HSP verlangt nicht mehr, so zu sein wie andere; man verfügt über einen neuen Bezugsrahmen zur eigenen Existenz mit passenderen Normen und Heuristiken zur Selbstinterpretation.

Es drängt sich die Frage auf, ob der Gebirgsketteneffekt Indiz für eine Identitätskrise ist; ist die Erleichterung, die sich nach Kontakt mit dem Terminus einstellt, Zeichen für ein pathologisch starkes Über-Ich? Vielleicht unterschätzt diese Vermutung die Bedeutung, die der für diverse Disziplinen zentrale Begriff der Rolle hat. Vermutlich jede Person fühlt Unbehagen, wenn sie nicht weiß, wie sie sich verhalten soll.

Fazit: Anscheinend führen die psychischen Vorgänge, die als Turmerlebnis Luthers bezeichnet werden, zu einer neuen (und gesünderen) Identität des späteren Reformators als leistungsunabhängig akzeptiertes Wesen. Der in diesem Zusammenhang auftauchende Begriff der Rolle mag konzeptuelle Schnittstelle sein, die beim Verständnis hilft, warum Kontakt mit dem Terminus „Hochsensibilität“ ähnliche Bedeutung für eine HSP haben kann.

Quellen:

  • Erikson, Erik H., Der junge Mann Luther – Eine psychoanalyische und historische Studie, München 1958
  • Cole, Allan Hugh Jr., A Spirit in Need of Rest: Luther’s Melancholia, Obsessive-Compulsive Disorder, and Religiosity, Pastoral Psychology, Vol. 48, No. 3, 2000, 169-190
  • Modalski, Ole, Luthers Turmerlebnis 1515, in: Lohse, Bernhard (Hrsg.), Der Durchbruch der Reformatorischen Erkenntnis bei Luther – Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988, S. 57-97
  • Keller, Horst (Hrsg.), Der Schatz im Acker (...) Hjalmar Sundéns Gedanken zu Gottes verborgenem Wirken in der Geschichte, Gera 2004
  • Sundén, Halmar, Luthers Vorrede auf den Psalter von 1545 als religionspsychologisches Dokument, Archiv für Religionspsychologie 15, 1982/3, S. 36-44


Autor: Michael Jack
Erschienen in Intensity 3, September 2010: http://www.hochsensibel.org/dokumente/Intensity/Intensity03.pdf.