Umwertung der Werte
Hochsensibilität und moralphilosophische Imperative
Im Juli 2021 erschien das Buch Hochsensibilität – Phänomenologische und ethische Überlegungen der Philosophin Dagmar Fenner, das anscheinend die erste deutschsprachige Veröffentlichung ist, die Hochsensibilität aus geisteswissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Da wir uns insbesondere für wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Hochsensibilität interessieren, stellen wir das Buch vor; unser Rezensent hat als Jurist ebenfalls eine geisteswissenschaftliche Ausbildung genossen.
Die deutsche Wissenschaftstheorie unterscheidet traditionell zwischen Naturwissenschaften, die, vereinfacht gesagt, bestrebt sind, Naturgesetze zu erfassen, und Geisteswissenschaften, die, ebenfalls vereinfacht gesagt, bestrebt sind, Inhalte und Formen der Kommunikation zwischen Menschen zu beschreiben. Eine Fragestellung für eine Naturwissenschaft könnte etwa sein, ob die Lichtgeschwindigkeit (wirklich) konstant ist; eine Fragestellung für eine Geisteswissenschaft könnte sein, inwieweit der frühe Tod Friedrich III. eine Auswirkung auf zeitgenössische Belletristik liberaler Autoren hatte.
Als Philosophin ist Dagmar Fenner Geisteswissenschaftlerin und steht unter dem (wohl zutreffenden) Eindruck, dass sich mit dem Konzept der Hochsensibilität vor allem Naturwissenschaftler mit ihren spezifischen Fragestellungen und Methoden auseinandergesetzt hätten, philosophisch-geisteswissenschaftliche Fragen aber vernachlässigt worden seien. Solche Fragen will sie in ihrem im Juli 2021 erschienenen Buch Hochsensibilität – Phänomenologische und ethische Überlegungen aufwerfen.
Der Schwerpunkt der philosophischen Arbeit Fenners liegt anscheinend in der Ethik, also der Moralphilosophie: Wie soll der Mensch sich verhalten? Insoweit überrascht es nicht, dass die philosophische Kernfrage des Buches eine moralphilosophische ist: Sollen sich die Hochsensiblen an die gesellschaftlichen Normen anpassen, oder soll umgekehrt sich die Gesellschaft an die Hochsensiblen anpassen?
Die ersten Teile des Buches scheinen für die Behandlung dieser Kernfrage nur Vorbereitungen zu liefern: Fenner diskutiert das Anderssein als Konzept und beschreibt – dies sind dann wohl die Phänomenologischen Überlegungen – Eigenschaften Hochsensibler, wobei sie vor allem bekannte Sachbücher gründlich auswertet und diese Auswertung mit zusätzlichen Erklärungen etwa zur Motivationspsychologie und Erzählungen aus ihrem eigenen Erleben ergänzt.
Im vierten Teil des Buches wird es dann, es sei offen zugegeben, für jene Leser, die allgemeine Beschreibungen des Phänomens der Hochsensibilität schon das eine oder andere Mal gelesen haben, erst wirklich interessant. Aber interessant wird es, unter anderem deshalb, weil Fenner eine erfrischende kritische Distanz zu üblichen Aussagen der Sachbuchliteratur an den Tag legt und prononcierte Positionen bezieht.
Zunächst zur Kernfrage: Die empirische Prämisse von Fenners Argumentation liegt in einem Satz: „Zweifellos bedeutet [..] Hochsensibilität eine Einschränkung der Arbeitsbelastungsfähigkeit“ (S. 159). Hieraus folge, dass Politik und Gesellschaft verpflichtet seien, „durch aktives Umgestalten der Lebens- und Arbeitsbedingungen auch hochsensiblen Menschen ein gesundes Leben und ein normales Spektrum an Lebenschancen zu ermöglichen“, denn gemäß der moralphilosophischen Lehre des luck egalitarism seien „unverschuldet eingeschränkte Chancen einzelner Mitglieder auf Wohlergehen ungerecht, weil sie nicht auf individuelle Entscheidungen oder Handlungen zurückgehen“ (S. 165). Und diese Ungerechtigkeit müsse bekämpft werden aufgrund der „sozialstaatlichen Aufgabe [..], mittels einer gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung unverdiente Benachteiligungen bezüglich essentieller Güter auszugleichen“ (S. 167).
Fenner sagt ausdrücklich, dass sie damit einen „Kontrapunkt zu den individualethischen Anleitungen zum besseren Selbstmanagement für Hochsensible in der Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur“ setze (S. 166). Sie seien Ausfluss einer „kollektive[n] Selbsttäuschung“, nach der „jeder Mensch durch eigene Entscheidungen und die freie Gestaltung seines Lebens sein Glück schmieden“ könne, was eine „einseitige[..] Fokussierung auf die eigenen Möglichkeiten und eine[..] Überbetonung der persönlichen Selbstverantwortung“ darstelle, was wiederum „zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft führen“ könne (S. 168).
Vielleicht zur Stützung ihrer empirischen Prämisse diskutiert Fenner auch die Frage, ob Hochsensibilität (nicht doch) als Krankheit oder Behinderung zu betrachten ist. Heißt Wissenschaft, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wird man dies nur begrüßen können. Wohl ihr Fazit: „Je nach Grad der Ausprägung stellt Hochsensibilität objektiv gesehen eine erhebliche Einschränkung des normalen Spektrums an Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten und insofern eine dauerhafte Beeinträchtigung dar“ (S. 146).
Unter derselben Überschrift, unter der die Kernfrage thematisiert wird, bespricht Fenner auch Themen, deren Zusammenhang mit dem Argumentationsgang auf Anhieb nicht ganz deutlich wird, etwa wenn Sie bezüglich der Frage reflektiert, inwieweit Hochsensible in der modernen Gesellschaft glücklich werden können. Zu diesen mitlaufenden Themen gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit der häufig geäußerten Behauptung, dass die Gesamtgesellschaft Hochsensible brauche – ein möglicher Zusammenhang zur Kernfrage wäre wohl in dem Postulat zu suchen, dass aus besonderen Fähigkeiten besondere Verantwortung folgt. Jedenfalls unterzieht Fenner diese Behauptung einer Untersuchung in der Form, dass die häufigsten bejahenden Argumente aus der populären Literatur einer philosophisch-methodischen Prüfung unterzogen werden.
Als erstes beleuchtet Fenner ein Argument, das sie als das Argument der Natürlichkeit der Hochsensibilität bezeichnet. Der Gedanke geht wohl auf Aron zurück: Hochsensibilität gibt es anscheinend bei allen höheren Wirbeltieren, also muss es ein Vorteil sein, dass ein Teil der Population reizempfindlicher ist, weil sonst die Evolution dieses Merkmal aussortiert hätte.
Fenner bezweifelt hieran, dass das auch stimmt, soweit einzelgängerisch lebende Spezies betroffen sind, und dass das Argument auch für die spezifischen Herausforderungen für homo sapiens sapiens in der modernen Gesellschaft gilt. Man erahnt bei der Lektüre der folgenden Absätze, dass gleich die Bazooka der moralphilosophischen Argumente kommen wird, und in der Tat spricht Fenner kurz danach dann davon, dass das Natürlichkeitsargument ein naturalistischer Fehlschluss sei, weil von der Natürlichkeit auf die moralische Qualität geschlossen wird, womit Abgrenzungen zwischen Betrachtungsebenen verletzt werden.
Hier schießt Fenner nach Auffassung des Rezensenten aber zu schnell aus der Hüfte. Denn ohne Weiteres leuchtet nicht ein, dass ein Aufzeigen, dass ein Persönlichkeitsmerkmal Produkt des Selektionsdrucks einer evolutionären Nische ist, die Vermischung unterschiedlicher Betrachtungsebenen darstellen soll, wenn nach der Nützlichkeit des Merkmals gefragt wird. Letztlich ist das Natürlichkeitsargument vielleicht gar nicht richtig einsortiert, wenn man es heranzieht zur Beantwortung der Frage, ob die Menschheit Hochsensible braucht. Möglicherweise ist es eher ein (verneinendes) Argument im Rahmen der Diskussion der Fragestellung, ob Hochsensibilität eine Behinderung oder Erkrankung darstellt.
Griffiger als evolutionsbiologische Überlegungen wäre ein Argumentationsgang, der Hochsensiblen unterstellt, bestimmte Fähigkeiten exklusiv zu besitzen, die die Menschheit, oder, prosaischer gesagt: der Arbeitsmarkt, braucht. Hierzu sagt Fenner, zusammengefasst, dass genau das nicht unterstellt werden kann: Entsprechende Fähigkeiten mögen bei Hochsensiblen stärker ausgeprägt sein; das heißt aber nicht, dass andere sie nicht auch aufweisen und die besonderen Ausprägungen immer unproblematisch sind.
Die Fähigkeit, Probleme früher als andere zu erkennen, könne zu Fehlalarmen führen; Fenner spricht hier recht unverblümt davon, angesichts der hohen Fehlerquote der Warnungen müssten selbige jeweils „einem sorgfältigen Faktencheck“ (S. 110) unterzogen werden. Braucht die Menschheit Hochsensible etwa aufgrund besonders hoher ethischer Standards? Nicht aufgrund besonderer Empathie, die ein schlechter Ratgeber sein könne, da ethisch-moralische Probleme „in erweiterten Handlungskontexten“ (S. 112) einer sorgfältigen kognitiven Analyse bedürften, wofür Hochsensible allerdings besonders disponiert sein könnten. Auch in diesem Zusammenhang sei freilich fraglich, dass Hochsensible sozusagen bestimmte moralische Qualitäten exklusiv aufwiesen.
Schließlich bespricht Fenner ausführlich die Frage, inwieweit Hochsensible besondere künstlerische Fähigkeiten haben, auf die sozusagen die Menschheit nicht verzichten kann. In diesem Zusammenhang verliert sie auch ein paar Worte zu der uralten Debatte, ob die Menschheit Kunst braucht.
Der Rezensent gewinnt hier einerseits ein wenig den Eindruck, Fenner habe die populärwissenschaftliche Literatur zu sehr beim Wort genommen. Es ist nämlich gar nicht klar, dass wenn gesagt wird, dass die Gesellschaft Hochsensible braucht, damit wirklich gemeint ist, dass die Menschheit untergeht, wenn Hochsensible mit ihren spezifischen Fähigkeiten nicht zum Gesamtwohl beitragen. Vielleicht will man auch schlicht sagen, dass Hochsensible durchaus eine konstruktive Rolle in der Gesellschaft spielen können.
Andererseits passt die intensive kritische Auseinandersetzung, die Fenner der entsprechenden Frage angedeihen lässt, zu einer Grundtendenz ihres Buches: Sie scheint der populären Literatur zu unterstellen, die Dinge zu rosig zu sehen: Hochsensibilität kann massive Beeinträchtigungen der Lebensqualität zur Folge haben; sie kann zur Folge haben, dass die Führung eines gelungenen Lebens nicht möglich ist. Keine Selbstoptimierung kann daran irgendetwas ändern und in Bezug auf diesen Punkt möge man sich bitte keinen Illusionen hingeben und nicht „eine affirmative Haltung zu den bestehenden Strukturen“ (S. 167) einnehmen, denn eine „langfristige Verbesserung [der] Chancen [der Hochsensiblen] auf ein gutes und glückliches Leben kann [..] nicht durch Anpassung an ein System, sondern nur durch Umwertung der Werte erzielt werden“ (S. 171).
Was ist von all dem zu halten? Bevor der Rezensent seinen Senf dazugibt, möchte er etwas klarstellen: Wenn eine philosophische Stellungnahme Widerspruch provoziert, ist das ein gutes Zeichen. Nur durch Diskussion tritt Erkenntnisfortschritt ein. Das Wiederkäuen von Konsensfähigem stellt keinen Mehrwert dar. Insofern kommentiert der Rezensent Fenners Grundannahmen und Schlüsse in der etwas naiven Hoffnung, einen Debattenbeitrag zu leisten. Über die Stellungnahmen als solche freut er sich wie ein Schneekönig.
Kritisch sieht der Rezensent schon Fenners Prämisse. Sehr wohl bestehen Zweifel daran, dass Hochsensibilität pauschal eine Einschränkung der Arbeitsbelastungsfähigkeit darstellt. Im Gegenteil sind Hochsensible potenziell überdurchschnittlich leistungs- und insbesondere auch belastungsfähig, wenn sie unter Arbeitsbedingungen arbeiten können, die ihrem Naturell entsprechen. Insbesondere wenn die intrinsische Motivation stimmt, können sie Wunder vollbringen.
Das Verdienst Fenners liegt wohl eher darin, daran zu erinnern, dass es Hochsensible gibt, denen es nicht vergönnt ist, die es beim besten Willen nicht schaffen, Arbeitsbedingungen oder Lebensumstände zu erreichen, die ihnen die Chance auf Zufriedenheit ermöglichen. In der Tat gibt es einen moralischen Imperativ, hier zu helfen. Der Teufel steckt freilich im Detail: Wieviel ist dem Rest der Gesellschaft zuzumuten?
Denn eine Zumutung ist es. Der Rezensent geht davon aus, dass eine Gesellschaft entweder auf die Bedürfnisse Hochsensibler oder auf die Bedürfnisse der Nichthochsensiblen zugeschnitten sein kann. Dies wird schon dann deutlich, wenn man sich die Frage stellt, welches Niveau an Reizen im Alltag als sozialadäquat weil nicht unangenehm betrachtet werden soll. Vertritt man eine utilitaristische Position, ist relativ klar, was die genannte Dichotomie für Konsequenzen haben muss.
Im Übrigen ist der Rezensent nicht der Auffassung, dass selbst aus Sicht der Hochsensiblen die gesellschaftlichen Werte einer Generalrevision bedürften. Seiner Auffassung nach setzt schon die für das Individuum gegebene Möglichkeit, sich als anders und möglicherweise auch schwächer als die meisten zu denken, ein historisch beispiellos hohes humanitäres Niveau des gesellschaftlichen Bewusstseins voraus. Dass man sich selbst gestatten kann, zu erwägen, sich in Abgrenzung zu der Mehrheit als hochsensibel zu begreifen, und es für legitim halten kann, zu explorieren, was man tun kann, um die individuelle Lebensqualität zu steigern, ist s. E. ein märchenhafter Triumph der individualistischen liberalen Gesellschaftordnung.
Vorletzt sei daran erinnert, dass es seit ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden der Menschheit nicht gelungen ist, den Begriff der Gerechtigkeit konzeptionell in den Griff zu kriegen, weshalb man zurückhaltend sein sollte, hieraus gesamtgesellschaftliche Imperative abzuleiten. Schließlich glaubt der Rezensent, dass Fenner die Aufgabe des Sozialstaates zu breit definiert: Essentielle Güter sind lediglich solche, die ein Überleben in Würde und ein Mindestmaß (!) an sozialer Teilhabe ermöglichen.
Diese Rezension bespricht das Buch Hochsensibilität: Phänomenologische und ethische Überlegungen von Dagmar Fenner. Erschienen ist es im Juli 2021 in der Schwabe Verlagsgruppe und kostet 28,00 €. Die ISBN lautet 978-3796543678.
Autor: Michael Jack
Erscheinen geplant in Intensity 9.