Wissenschaftliche Anerkennung II

Parallelkonzepte 
Entwicklungspsychologen sehen Reizempfindlichkeit differenzierter 

Die Beantwortung der Frage, inwieweit Hochsensibilität „wissenschaftlich anerkannt“ sei, machte bisher umständliche wissenschaftstheoretische Erörterungen erforderlich. Mittlerweile ist es etwas leichter, befriedigende Aussagen zu tätigen, weil inzwischen auch Forscher, die aus einer ganz anderen Ecke als Aron kommen, bemerkt haben, dass Menschen unterschiedliche Reizempfindlichkeiten aufweisen und dass das für Betroffene nicht nur doof ist.

Schon seit längerem sei in der Entwicklungspsychologie anerkannt, so heißt es in einem Artikel in der psychologischen Fachzeitschrift Development and Psychopathology aus dem Jahr 2011, dass namentlich Kinder unterschiedlich auf ungünstige Umweltbedingungen reagierten, manche also eine höhere Vulnerabilität (vulnerability) gegenüber aversiven Entwicklungsbedingungen aufwiesen. Hierbei sei allerdings ein wenig vernachlässigt worden, zu untersuchen, ob diese besonders reaktiven Kinder möglicherweise auch stärker auf förderliche (supportive) Umweltbedingungen ansprächen, diese also bei ihnen im stärkerem Maße positive Entwicklungen hervorriefen.

Insofern habe es etwa Forscher Mitte der 90er Jahre überrascht, dass Kinder mit stärkeren Reaktionen des Kreislauf- und Immunsystems auf Stressoren zwar, wie erwartet, in höherem Maße unter Atemwegserkrankungen litten als ihre weniger empfindlichen Altersgenossen, gleichzeitig aber auch, wie nicht erwartet, geringere Erkrankungswerte als „normale“ Kinder aufwiesen, wenn sie mit weniger aversiven Bedingungen konfrontiert waren. Hieraus hätten die Forscher die Idee entwickelt, dass aversive Entwicklungsbedingungen stärker negativ, förderliche Entwicklungsbedingungen aber eben auch in stärkerem Maße positiv auf empfindlichere Orchideen-Kinder wirkten als auf weniger empfindliche Löwenzahn-Kinder.

Da man den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Reaktion auf Stressoren legte, die ihrerseits maßgeblich durch die Konstitution des Nervensystems bedingt war, betonte man die (neuro-)biologische Perspektive auch im Rahmen der Namensgebung bezüglich der biological sensitivity to context theory, was sich etwa mit: „Theorie der biologischen Empfindlichkeit gegenüber der Umwelt“ übersetzen lässt.

Entwickelte sich die biological sensitivity to context theory induktiv als Interpretation von überraschenden Forschungsergebnissen, kamen Forscher deduktiv durch Ableitungen aus evolutionsbiologischen Prinzipien zu der These, dass es für Eltern unter dem Aspekt des maximierten Reproduktionserfolges sinnvoll sein könnte, (mehrere) Kinder mit unterschiedlicher Reizempfindlichkeit zu haben. Die Löwenzahn-Kinder hätten hier sozusagen eine Art Reservefunktion: Ihr Reproduktionserfolg ließe sich durch optimale Entwicklungsbedingungen zwar nicht maximieren; sie lieferten reproduktionstechnisch im Vergleich zu Orchideen-Kindern aber brauchbare Ergebnisse unter suboptimalen Bedingungen. Diese These nennt sich differential susceptibility theory, zu deutsch etwa: „Theorie der unterschiedlichen Empfänglichkeit“, wobei es eben Geschwisterkinder sein sollen, die unterschiedlich empfindlich sind.

Diese Überlegungen unterscheiden sich damit vor allem in ihren Ausgangspunkten: Die differential susceptibility theory (DST) betrachtet abstrakt-theoretisch die Reproduktionsstrategie von Eltern; die biological sensitivity to context theory (BSCT) macht sich aus empirisch gewonnenen Ergebnissen einen Reim und nimmt dabei eher das individuelle Kind als Wettbewerber um Reproduktionschancen in den Blick.

Die biological sensitivity to context theory geht dabei auch davon aus, dass trotz der Probleme in aversiven Umwelten eine höhere Zahl von reizempfindlichen Individuen auftreten dürfte, da frühe Traumatisierungen die Ansprechbarkeit auf Stressoren erhöhen könnten. Insofern werde es „mehr“ reizempfindliche Individuen sowohl in stark belastenden wie auch in stark förderlichen Umwelten geben; diese Vorhersage kleidet man in einen U-förmigen Graphen, wobei der hängende Bauch die Werte für durchschnittliche Umweltverhältnisse angebe.

Einig sind sich die Modelle insofern, als gemeinsam postuliert wird, dass Menschen aufgrund unterschiedlicher Eigenschaften ihres Nervensystems unterschiedlich auf Reize reagieren und höhere Reizempfindlichkeit unter entsprechenden Bedingungen sehr hohen Entwicklungserfolg hervorrufen kann. Das ist, wie gesagt, neu; in der Vergangenheit war Empfindlichkeit mit Vulnerabilität gleichgesetzt und damit mit der Konnotation „problematisch“ versehen worden.

In Bezug auf die neurologischen Korrelate der besonderen Empfänglichkeit, also die physischen Ursachen (proximate Kausalität), haben auch die Autoren des hier besprochenen Aufsatzes keine Ahnung, was in der Wissenschaft üblicherweise dazu führt, dass man das Problem als Fragestellung für zukünftige Forschung formuliert. Sehr interessant sind ethische Überlegungen, die im Text angestellt werden: 1. Ist es ökonomisch, auf die wenigen Orchideen (= Mimosen) Rücksicht zu nehmen? Dies bejahen die Autoren: Geht es den Orchideen gut, geht es allen gut. 2. sozusagen entgegengesetzt: Sollten nur Orchideen-Kinder speziell gefördert werden, da diese am meisten von Förderung profitieren? Dies verneinen die Autoren nicht zuletzt mit dem Argument, dass die bestmögliche Förderung das Menschenrecht eines jeden Kindes sei.

Wie ist das Verhältnis zwischen den neuen Theorien und unserer Hochsensibilität, also sensory-processing sensitivity nach Aron? Ja, da gebe es durchaus Ähnlichkeiten; die BSCT und die DST seien aber nach der Untersuchung von Entwicklungsprozessen bei Kindern entstanden, wohingegen SPS auf der Basis von Beobachtungen kognitiver Prozesse von Erwachsenen entwickelt worden sei. Ich stehe unter dem Eindruck, dass damit gemeint ist, dass BSCT und DST von Entwicklungspsychologen mit ihren spezifischen Perspektiven entwickelt wurde(n), SPS hingegen durch die Differenzielle Psychologie, die man auch als Persönlichkeitspsychologie bezeichnet.

Inwieweit man diese Geschichten konzeptionell zusammengebastelt kriegt, ist nicht unser Thema. Uns erfreut, dass nicht nur Epigonen Arons (noch frecher formuliert: Jünger) ihre Forschungsergebnisse krampfhaft zu reproduzieren versuchen, sondern auch Forschern, die aus ganz anderen Ecken des psychologischen Wissenschaftsbetriebes kamen, aufgefallen ist, dass manche Menschen reizempfindlicher sind als andere und dabei nicht unbedingt Sorgenkinder sein müssen.

Die Wahrnehmung dieses Umstandes sowie der nennenswerten Zahl von zu diesen Fragestellungen veröffentlichten Studien führte den Koordinator unseres wissenschaftlichen Netzwerkes, Prof. Alex Bertrams, zu der mir gegenüber geäußerten Bewertung, inzwischen dürfe in der akademischen Psychologie als geklärt gelten, dass Menschen unterschiedliche Reizempfindlichkeit aufwiesen und dies nennenswerte Auswirkungen auf Temperament und/oder Charakter habe. Der IFHS schreibt heute auf seiner Website etwas vorsichtiger: „Dass Menschen unterschiedlich und manche besonders stark auf Reize reagieren, darf als gesichert gelten“.

Klarzustellen ist hierbei, dass damit nicht Hochsensibilität im Sinne des von Aron postulierten Konstruktes gemeint ist. Sondern wir sind etwas allgemeiner unterwegs; m. E. ist damit aber schon das Entscheidende gesagt: Ja, es ist wissenschaftlich anerkannt, dass manche Menschen sensibler sind als andere.


Link zum Volltext und bibliographische Angaben:
– Ellis, B. J., Boyce, T., Belsky, J., Bakermans-Krankenburg, M. J., & van Ijzendoorn, M. H. (2011). Differential susceptibility to the environment: An evolutionary–neurodevelopmental theory. Development and Psychopathology, 23, 7–28.


Autor: Michael Jack
Vorabveröffentlichung; Veröffentlichung geplant für Intensity 8, Erscheinungsdatum voraussichtlich Oktober 2016.